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1992 - 2024
32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

An und auf dem Amazonas (...und fast im Amazonas)
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
14.05.07     A+ | a-
Mein Bedarf an Süssem kommt in Brasilien entschieden zu kurz, weil es einfach keine gute Schokolade gibt (hier wird unbedingt ein Herr Sprüngli gebraucht)  -  und wenn süss, dann gleich die volle Dröhnung, dass es einen schüttelt, ob im Cafezinho, der eher Zucker mit Kaffee ist oder in den Fruchtsäften. Da hilft nur  -   wenn man rechtzeitig dran denkt  -  laut schreien: “Pouco azucar!”

Von Manaus nach Santarèm, auf halber Strecke zwischen Manaus und Belèm gelegen, nehme ich einen TAM-Flug, das ist die Linie mit dem roten Teppich und dem “Stolz, brasilianisch zu sein”. Ehrlich, das steht fett auf jedem ihrer Flieger. Auch darf man immer über einen roten Teppich gehen, Billigflieger wie ich eingeschlossen, wenn es auch nur ein roter Fetzen ist mit Löchern wie in Santarèm.
Eisern durchgehalten wird auch, dass immer der Flugkapitän am Eingang steht und jeden freundlich anlächelt. Das ist zum Schreien komisch und nur deshalb unverzichtbar.
Als hätte die Stewardess meinen Bedarf an Süssem geahnt, greift sie, auf meine vorsichtige Frage hin, ob es auch zwei sein dürfen, in die Bonbonschale und reicht mir eine volle Hand der leckeren TAM-Karamellen.
Ist das nicht komisch: Die Bonbons waren mehr wert als alle gekauften.

Ich wundere mich, wie lange ein Flugzeug über einen Fluss fliegen kann, ohne Schleifen und sogar quer. Genauer gesagt über zwei, der Rio Tapajós, einer der grossen Zuflüsse,  mündet bei Santarèm  in den Amazonas, und beide Flüsse, mitsamt allen Nebenarmen und Überschwemmungsgebieten, wirken von oben wie ein riesiger Ozean.
„Die Landschaft um Santarèm bezaubert mit weissen Sandstränden an den Ufern des Rio Tapajós, verschwiegenen Flussinseln, riesigen Seerosen, einer Vielzahl von buntgefiederten Vögeln und farbenprächtigen Schmetterlingen ....“ verspricht der Reiseführer. Man muss das nicht alles gesehen haben, um nicht dennoch bezaubert zu sein. Von den versprochenen Schmetterlingen sehe ich ohnehin immer nur die grossen blauen, Seerosen hatte ich schon, Vögel hörte ich jedenfalls ständig zwitschern, ein Konzert ohne Artisten sozusagen. Die Sandstrände blieben verborgen bei immer noch ungewöhnlich hohem Wasserstand.
Wenn sie ihr leuchtendes Weiss zeigen, verändert sich die Landschaft, ja sie nimmt einen gänzlich anderen Charakter an. Für dieses Mal eben ohne mich.
Gerade für den Amazonas gilt: Wenn man wirklich tiefere Einblicke nehmen will, braucht man unendlich viel Zeit, schon allein deswegen, weil riesigste Entfernungen nur in langsamster Fortbewegungsart zu bewältigen sind, nämlich per Schiff. Während wir die Stunden zählen, rechnet der homem amazônico in Tagen, von denen es schliesslich genug pro Jahr gibt.

1866 war Kaiser Dom Pedro II so grosszügig, die brasilianischen Häfen für befreundete Nationen zu öffnen. Nur 10 Jahre später nutzte der clevere englische Handelsmann Henry A. Wickham diese Freiheit und schmuggelte 70.000 Kautschuksamen auf einem Frachter aus Brasilien.
Fortan gedieh der Kautschukbaum auch auf britischen Plantagen in Südostasien, das brasilianische Monopol war gebrochen.
Dem Amerikaner Henry Ford seinerseits brach es das Herz, für seine gigantische Autoproduktion vom britischen Gummi abhängig zu sein, und so schuf er sich im Jahre 1930 kurz entschlossen ein eigenes Land, das er grössenwahnsinnigerweise „Fordlândia“ nannte, eine Gummiplantage von 1 Mio ha Grösse in der Nähe von Santarèm. Dazu eine ganze Stadt, „Belterra“, in der die 10.000 Plantagenarbeiter untergebracht wurden. Das Projekt schlug unter hohen Verlusten fehl, Henry Ford wird das weniger ausgemacht haben als den Kautschukbaronen seinerzeit der Gummiklau des listigen Engländers.
Ich habe mir in Fordlândia die Reste der gewaltigen Kautschukplantage angeschaut, die in einem Masse vermodert aussehen, wie wir es so lieben, aber doch noch so weit erhalten, um die alten Strukturen und Produktionsschritte erahnen zu können. So ist Fordlândia ein Paradies für Liebhaber tropischer Pionierleistungen  -  die Moral eines Ford oder einer willfährigen brasilianischen Regierung mal beiseite gelassen.

„Belterra“, schönes Land, ist auch heute noch die riesige Ansammlung gleichartiger, gleichwohl recht hübscher Holzhäuser von damals, alle in grossem Abstand errichtet, mit einem Äckerchen und Gärtchen zu jedem Häuschen.
Ich habe Henry Ford etwas rehabilitiert im Geiste, denn die Arbeiter hatten es bei ihm besser als bei den meisten brasilianischen fazendeiros -  allerdings nur solange das Projekt lief.
War Belterra schon damals eine Art früher „Schlafstadt“, so ist sie es heute nicht minder, nur in einem anderen Sinne: Hier brechen morgens nicht mehr Scharen von Werktätigen zur Arbeit auf, sondern hier verdämmern heute Tag und Nacht Rentner, Pensionäre und zur Ruhe gesetzte Militärs ihren Lebensabend, schlaues Projekt eines Gouverneurs, das freilich vor allem dazu diente, den eigenen Lebensabend zu versüssen.

Es hört sich ja vielleicht komisch an, aber an Santarèm hatte mich schon allein der Name angezogen, da es eine gleichnamige Stadt in Portugal gibt. Genauer gesagt wimmelt es hier nur so von Städtenamen aus der portugiesischen „Besatzung“ (wie es richtig heissen müsste), Namen, die gewissermassen aus Portugal importiert wurden.
Ausser ein paar Hinweistafeln und einigen wenigen Häusern aus der Kolonialzeit war aber Santarèm nur noch dem Namen nach portugiesisch.
Foto by Hermann Schmitz
Um 20.00 Uhr nahm ich ein Schiff nach Alenquer, ein weiterer Ort, den ich schon aus Portugal kannte, ich hatte die Suche nach Verwandtem und die Lust auf Wiedererkennen noch nicht aufgegeben.
Doch erst einmal galt es, eine Hängematte zu erwerben, unten am Hafen an einem  der   mit  diesem   in   Brasilien  alltäglichen   Gebrauchsgegenstand   gut
besteckten Stände. In allen Regenbogenfarben, mit oder ohne Muster, „casal“ oder „soltero“ (Paar oder Alleinschläfer), mit oder ohne Troddeln u.s.w.  -  ich bekam sie von einer gemütlichen Dicken alle gezeigt und ihre jeweiligen Vorzüge beschrieben. Doch ich brauchte ja nur eine Matte für ein paar Nächte, die ich dann, auf leichtes Gepäck bedacht, verschenken würde.
Es war nicht leicht, die Hängemattenhändlerin davon zu überzeugen und sie zum Griff in die billigere Abteilung zu bewegen: 20 Reais, 8 Euro, da kann man doch nicht klagen, dafür bekommt man nicht einmal in Brasilien ein Hotelzimmer für eine Nacht.
Die Warnung der HMV vor kühlen Schiffsnächten war so überzeugend und gleichzeitig wohlmeinend vorgetragen, dass ich noch eine Decke dazu erwarb. Hier und jetzt möchte ich dieser im wörtlichsten Sinne guten Frau meinen herzlichen Dank sagen. Ohne Decke wäre ich halb erfroren!
         
Ich bin immer noch zu blöd, die Befestigungsschnüre für das Anbringen der Hängematte so zu verknoten, dass man auch garantiert nachts nicht auf dem harten Schiffsboden landet. Ein alter Mann hilft gern und routiniert, ich schaue gar nicht erst zu, vergesse es ja doch wieder. Es ist eine Freude zu verfolgen, wie selbstverständlich das ganze Schiffsvolk sich auf die nächtliche Fahrt vorbereitet, im Nullkommanichts die „redes“ (Netze auf port.) aufspannt, das Gepäck darunter verstaut und sich zumeist gleich in die Horizontale begibt.
Jeder weiss was er zu tun hat, hat Dutzende solcher Reisen unternommen, nur ein Tourist wie ich läuft etwas dümmlich durch die Gegend, stolpert über Hindernisse, die nur für ihn welche sind, stösst sich  -  mehrfach  -   die Birne beim Hochsteigen aufs obere Deck, und bis auch er es endlich in seine Matte geschafft hat, konnte er den einheimischen Passagieren überzeugend vorführen, dass er aus einer anderen Welt stammt.
Foto by Hermann Schmitz
Das Schiff fährt erst dann los, wenn die letzte Klopapierrolle (Ladegut an diesem Abend) im Schiffsbauch, das letzte Motorrad auf Deck verstaut ist, alles an Bord geschafft über schaukelnde Planken, die über nächtlich schwarzes Hafenwasser führen. Meine Sicherheit frühere Tage im Balancieren ist dahin, ich spüre es schmerzlich, also lasse ich mein Gepäck lieber von einem Geübteren an Bord bringen.
Dieses aufgeregte Gewusel und Gewimmel vor Ablegen eines Schiffes und das Erlebnis der Fahrt selber sind prägende Erinnerungen an einen Aufenthalt am Amazonas.

Meine Schlafnachbarin, ein alte Frau, hatte Mühe, sich aus ihrer Hängematte heraus zu arbeiten, das verstehe ich natürlich. Dass sie sich dabei aber hilfsweise in meinem Gesicht festhielt, fand ich, auch angesichts ihres Alters, denn doch  unangemessen. Ich habe ihr gesagt, beim nächsten Mal bisse ich zu.
Da waren wir aber schon, es war 3 Uhr morgens, im nachtdunklen Hafen von Alenquer angekommen, Endstation, nur wer hier ein Zuhause hatte, stieg aus, alle anderen blieben in den Matten hängen, also auch ich. Das waren die besten Stunden Schlaf von drei bis sechs, ohne den lästigen und kühlen Fahrtwind und ohne das infernalische Motorengeräusch.

Doch doch, Alenquer zeigte sich bei Tageslicht portugiesischer als vermutet, an der Hafenpromenade zum Beispiel  mit den typischen portugiesischen Hausfronten  -  zwei Fassaden waren sogar mit den original blauen Kacheln, den azulejos, geschmückt  -  fühlte ich mich tatsächlich wie in einer Art portugiesischer Kulisse. Natürlich war das alles nicht so schön und sauber wie im echten Portugal.
Den Mann vom „Hotel Paraíso“ brauchte ich gar nicht lange zu überzeugen, dass ich sein Zimmer nur bis 12 Uhr mittags mieten wolle, das ist nicht unüblich, und zum halben Preis, 12 Reais, 5 Euro, war ich dabei.
Sachen abstellen, mal aufs Bett legen, duschen  -  letzteres eine der wichtigsten Handlungen bei diesem heissen und überaus feuchten Klima.
Und gleichzeitig ein illusorisches und nur kurz vorhaltendes Vergnügen, schon bald rieselt es wieder den Rücken herunter, ganz ohne Dusche, und der ewige Schweissfilm hat sich auf den ganzen Körper gelegt.
Hilft denn da nicht Caipirinha  -  mit den frischen Limonen gegen das Durstgefühl und der Cachaça zur Erzeugung einer leichten bis mittleren Trunkenheit, die einen die Hitze leichter ertragen lässt? Stellt man hier im Norden die Frage nach Caipirinha, bekommt man zwar nie eine, hat aber Gelegenheit, anhand der Antwort eine interessante linguistische Besonderheit des „Nordportugiesischen“ festzustellen: „Têm não!“ ist die Standardantwort, statt „Não têm!“, wie es „richtig“ heissen müsste, im Deutschen wäre das ein „Nicht gibt’s!“.
Wie auch immer, einer der Gründe, Brasilien zu lieben, nämlich wegen seines Nationalgetränks Caipirinha, entfällt hier oben schlicht. Das ist hart. Ich hab’ dann nur noch gefragt, um das anmutige „Têm não!“ zu hören ...

Bei der Stadt Òbidos, 6 Stunden weiter amazonasaufwärts gelegen, hatte mich nicht nur der Name angesprochen, zumal ich doch die portugiesische Namensgeberin in bester Erinnerung hatte, sondern die Existenz eines Bischofs mit dem Namen Lammers, der mir ausgesprochen niederrheinisch vorkam. Wer weiss, ob dieser Gottesmann nicht aus unserer Ecke stammte?
Also an Bord des nächsten Kahns nach Óbidos, 12 Uhr Abfahrt, 6 Stunden Fahrtzeit, Schiffe verkehren am Amazonas wie bei uns die Busse.
Die Hängematte spannt man natürlich auch bei einer Reise über Tag auf, sie ist ja nicht nur Schlafstatt des Amazoniers, sondern ein wichtiger Lebens- und Aufenthaltsraum.
Neben mir eine dieser wunderbaren Mütter, bei deren Anblick einem das Herz aufgeht, wenn man ihnen beim Umgang mit ihren Kindern zusieht. Alles Pflegerische am Nachwuchs wird so geschickt (auf engem Schiffsraum) und fürsorglich gehandhabt, dazu aber noch die liebevolle Zuwendung zum Kind  -   auch meine Nachbarin liess mich mit erleben, dass eine einfache Frau ihren Kindern das Wichtigste für ihr Leben zu geben in der Lage ist. Und während sie alles tut was sie kann, und ohne das nichts werden kann, tut der Staat so gut wie nichts und hat für diese Kinder nur schlechte Schulen, eine miserable Gesundheitsversorgung und verbaute Lebensperspektiven (wenngleich in Brasilien im Schnitt bestimmt besser als in Paraguay!)
Neben der Fürsorge für ihre Kinder blieb ihr noch Zeit für lange Unterhaltungen mit mir, nach „Ansage“:
„Ich quatsche gern viel“, hatte sie sich mir vorgestellt, und so redete sie hinfort wie ein Wasserfall, wenn ich mal kurz einnickte, nahm sie´s mir nicht übel, sie wartete einfach ab, bis ich wieder aufnahmefähig war.

Das einzig wirklich Saubere auf dem Schiff war die Uniform des Kapitäns (den angeblich mitreisenden Jesus bekam ich nicht zu Gesicht, wahrscheinlich wieder so ein blinder Passagier), davon konnte ich mich kurz vor Òbidos im Schein der  -  wie ich noch glaubte zwecks Anlegen  -  eingeschalteten Lampen erneut überzeugen, als er an meine Hängematte trat und sagte:“ Wir legen nicht im Hafen von Òbidos an ...“  -  der Schreck durchfuhr mich, Òbidos stand doch auf meinem Fahrschein!  -   „ ... Sie sind der einzige Passagier, der nach Òbidos will ...“  -  Na und!? Muss ich deswegen zur Strafe nach Manaus zurück?!  - „ ....deswegen holt Sie ein Boot in der Mitte des Flusses ab. In einer Stunde sind wir da.“ 
Beruhigung mischt sich mit neuer Unruhe: „Ein Boot holt Sie ab ...“, was soll das denn werden?
Jetzt war mir auch klar, warum bislang keiner der Passagiere seine Hängematte verlassen hatte, obwohl doch nach meiner Berechnung Òbidos schon nahte. Schlaftrunken packte ich mit Taschenbeleuchtung  -   die Schiffslampen hatte der Kapitän, mehr auf den ruhigen Schlaf seiner Passagiere als auf das Wohl des gringos bedacht, gar nicht erst einschalten lassen  -  mein Zeug zusammen, eine logistische Meisterleistung, auf die ich heute noch stolz bin. Keiner regte sich, nur mein Schlafnachbar auf Tuchfühlung grunzte, wenn ich gegen ihn stiess. Beim Gedanken an das Lösen der Befestigungsknoten wollte ich schon verzweifeln, aber mein Helfer vom Vorabend hatte nicht nur die Kunstgriffe des festen Verknotens, sondern auch die für das spätere leichte Lösen angewandt. Ein Gefühl der Dankbarkeit stieg in mir auf, so viel Zeit muss sein.

Die schwachen Lichter von Òbidos tauchten auf, noch 15 Minuten, dann erschien, unter immer deutlicher vernehmbarem Motorengetuckere und zuletzt im Schein des Schiffsscheinwerfers, das besagte Bötchen backbords. Ich wurde an die Reling plaziert, eine Art Matrose nahm mir für- und vorsorglich das Gepäck ab. „Reich´ ich dir an...“
Wann? Wo? Wie?
Unser Schiff hatte seine Fahrt nur unwesentlich verlangsamt, das hörte ich am Motorengeknatter, sah es aber jetzt vor allem an der aufschäumenden Bugwelle des Bootes, das bereits längsseits unter mir neben dem Schiff tanzte, von einem anderen Matrosen mit einem Tau gehalten, das er mit festem Griff hielt wie ein Reiter die Zügel eines unruhigen Gauls.
Ich wollte in diesem Moment eigentlich sagen, dass ich noch nie von einem fahrenden Schiff auf ein fahrendes Boot gestiegen bin, dazu mitten in der Nacht  -  nicht mal auf dem Rhein, geschweige denn auf dem Amazonas! Aber ich wollte mich nicht blamieren. Ausserdem hatte jetzt doch ein Dutzend Passagiere etwas mitbekommen und war, auf Abwechslung aus, zum Zuschauen an die Reling gekommen, an der ich stand, unschuldigerweise auf eine Treppe oder dergleichen wartend.
           
Aber der Matrose wies nur stumm auf die Reling. Ich stieg also tapfer darüber, peilte den tanzenden Kahn mit den beiden jungen Männern unter mir an und liess mich tiefer gleiten, mehr oder weniger in die Arme der beiden, mich aber noch an der unteren Strebe der Reling festhaltend. Festhaltend?
Festklammernd! Unbewusst wollte ich wohl dieses Schiff nicht loslassen, das wusste aber der Bootsfúhrer nicht, der schon Fahrt, vom Schiff weg, aufgenommen hatte. Ohne es mir zu sagen! Andererseits: Wie konnte er wissen, dass ich so an dem Schiff hing?
Zwischen Boot und Reling wurde ich derweil immer länger, bis mich schliesslich der andere junge Mann mit Gewalt ins Boot zog. Gerettet!
Beim Loslassen hatte ich das sichere Gefühl gehabt, ins Wasser zu fallen, Geschrei über mir zeigte an, dass es auch genau so aussah (und die zerknautschte Packung mit den kaputten Zigaretten aus meiner Bauchtasche zeigte mir am nächsten Tag, dass da nachts ziemliche Kräfte im Spiel waren).
Das Lachen der männlichen Zuschauer verebbte, wenigstens aber konnte ich noch erkennen, dass sich die einzige Frau (!) an der Reling immer noch die Hand vor den Mund hielt. Nein, eben nicht vor Lachen, sondern vor Schreck! Hoffe ich.
Das schlanke Metallboot glitt schnell zum Hafen, das Schiff war bald nur noch ein schwacher Glanz auf dem riesigen schwarzen Strom.
Mir blieb der Schreck, aber auch ein vages Bedauern, nicht wirklich in den Amazonas gefallen zu sein....         Wie hätte man das erst berichten können!

Óbidos endlich wirkte am portugiesischstent, hier glaubte ich schon mal gewesen zu sein, und der Amazonas rückte ein Stück in den Hintergrund, freilich nur in Gedanken, denn hier war der Strom besonders nah und richtig überschaubar. Bei Óbidos nämlich hat er seine engste und tiefste Passage, immer noch vier bis fünf Mal so breit wie unser Rhein. Man erblickt bequem das gegenüberliegende Ufer und hat das Gefühl, einen „richtigen“ Fluss zu sehen. Für die portugiesischen Eroberer war genau dies der Grund, an dieser Stelle Óbidos zu gründen und hier -  bei dieser grandiosen Übersicht  -  ihr Territorium zu verteidigen. Das alte Fort auf dem Hügel über dem Fluss ist heute eine Art Kaserne, ein Offizier zeigt mir betont lustlos die kleine Anlage mit den vor sich hin rostenden Kanonen. Ebenso betont demonstriere ich meine Unlust, ihm ein Trinkgeld zu geben, auf das er spekuliert.
Ach ihr stolzen Portugiesen, wisst ihr eigentlich, was hier vom Glanz eurer Epoche als Weltmacht noch übrig geblieben ist?!

Óbidos bereitet sich auf drei Wochen (!) „Festa de Sant´ Ana“ vor.
Mein anfängliches Bedauern, zu früh erschienen zu sein, lässt allerdings merklich nach, als ich des Programms ansichtig werde:
Ein frommer evento nach dem anderen, es geht fast nur ums Beten und Huldigen der Ortsheiligen.
Die wird gerade, in einem hinteren Raum der Kirche, mitsamt ihrem Jesusknaben auf dem Arm, einer gründlichen Reinigung mit anschliessendem Neuanstrich unterzogen. Das macht ein schwarzer junger Mann mit ganzer Hingabe. Er erläutert mir seine Technik der Bemalung mit einer Art Plakafarbe, die so ziemlich genau ein Jahr hält  - durchaus so vorgesehen, da er diese Zeremonie jeweils wiederholen und damit sein Können immer wieder unter Beweis stellen kann.
Auf dem Boden liegen zum Trocknen ausgebreitet die Bilder der Kreuzwegstationen, grandios bunt und   -  kitschig will ich schon schreiben, aber was soll die Einordnung in unseren Kunstverstand bei einer derart schlichten Volksfrömmigkeit, wie sie hier allenthalben vorherrscht. (Ich habe ein Dutzend Sekten gezählt, und das sind längst nicht alle, die der katholischen Kirche den Rang ablaufen und die Schlichtheit des Angebots der Einzig Wahren Kirche (EWK) noch glatt unterbieten  -   allerdings beuten sie die Menschen noch zusätzlich finanziell aus).

Der Kirchenraum wird gerade leer geräumt, an die einhundert lange Bänke müssen auf den Vorplatz geschafft werden, damit der geflieste Boden gescheuert werden kann. Warum bloss biete ich meine Hilfe an? Und wieso gehe ich davon aus, dass sie dankend abgelehnt wird?
Nach sechs bis sieben Bänken bin ich fix und fertig. Sie sind aus Tropenholz, und ich bewege mich in tropischer Hitze, hatte ich das vergessen?! Heilige Sant´ Ana  -  wie halten die Leute das hier bloss aus?!
Eine hübsche Gemeindehelferin führt mich verschwiegen in einen Nebenraum, hört sich gut an, nicht wahr, aber natürlich hat sie nur Frommes im Sinn, als sie, als sei es verboten, eine graue Decke von einem in einer hölzernen Grabstelle aufgebahrten Leichnam zieht. Diese graue Decke über den Umrissen eines menschlichen Körpers sah schon gruselig aus, als jetzt aber ein frisch bemalter Jesus auftaucht, samt echter Dornenkrone mit blutverschmiertem Gesicht, mit plakaroten zerschundenen Knien ( ein Werk unseres schwarzen Malers), packt mich das kalte Grauen. Das sieht dermassen echt aus, kein Jesus liegt da, das ist ein Schwerverletzter, so dass ich unwillkürlich denke:
Mein Gott, der Mann muss sofort ins Krankenhaus!
Mein Gesichtsausdruck wird als religiöse Verzückung gedeutet, und behut- und bedeutsam breitet die Hübsche wieder das graue Tuch über den Sohn Gottes.
      
In der gegenüberliegenden Halle wird ebenfalls gebastelt und gezimmert, unter anderem die grossen Holzkonstruktionen mit den Konterfeis der letzten fünf Bischöfe von Óbidos. Der Amtierende mit roten Wangen und strahlend blauen Augen ist „Dom Martinho Lammers“.
So lerne ich schon an diesem Abend den deutschen Landsmann Lammers kennen, wenn auch nur als Werk aus der künstlerischen Produktion seiner Schäfchen.
Ich muss noch etwas zu diesen unzähligen Helfern der Gemeinde Óbidos sagen, die da allesamt mit Hingabe arbeiten und den Besucher dabei ganz selbstverständlich teilhaben lassen.
Sie vermitteln nicht nur frommes Wesen, sondern auch Aufgeschlossenheit und einen tätigen Gemeinsinn, wie man ihn bei Basiskirchengemeinden Brasiliens findet. Ihr Laienengagement ist vorbildlich, ohne sie könnte der Papst seinen Laden dicht machen, vor allem was die Arbeit der unzähligen Frauen betrifft. Und so höre ich auch hier durchaus  kritische Töne über den „alemão“ Bemdito XVI, auch von den drei Gemeindefrauen, die beim Papstbesuch in Aparecida dabei waren. Sie fühlen sich von diesem Papst in ihrer Arbeit nicht wirklich ernst genommen: „Bemdito lobt uns zwar immer, aber letztlich dürfen wir nur die Kirche fegen. Warum nicht auch die Messe lesen?!“

Am Nachmittag des nächsten Tages bringt mich Dona Fabiana zum Bischofshaus, auf einem Hügel über dem Ort gelegen. Wir treten ein.
Wie sich diese kirchlichen Gebäude in Südamerika gleichen: Gediegene Einrichtung, dunkle Hölzer, einfache Büros, Küche, Speise- und Andachtsraum, manchmal auch noch eine kleine Bibliothek. Und immer ist es einigermassen kühl, ein Duft, gemischt aus Weihrauch und Putzmitteln, umgibt einen, aus den Küchen riecht es immer gut. Und meist steht alles offen.
So auch hier, schon beim Betreten des Hauses erkenne ich durch die weit geöffnete Tür das karierte, kurzärmlige und offene Hemd von Dom Martinho. Er kommt mir entgegen und ich vergleiche unwillkürlich das gesehene Bildnis mit dem Original. Der Mann vor mir kommt besser weg, nur die Augen sind vom gleichen Blau.
Nach einer Stunde weiss ich viel von seinem Leben und seiner Arbeit, ich erlebe, dass ein Mann sein kann wie sein Hemd: Kurz angebunden (keineswegs unfreundlich!), offen und hemdsärmelig. Wollte ich den Vergleich auf die Spitze treiben, würde ich auch noch die ein oder andere karierte Meinung von Dom Martinho dazu nehmen.
Beim Mittagessen, zu dem er mich freundlich einlädt, erzählt er weiter:
Nein, nicht vom Niederrhein stammt er, aber auch nicht  weit davon entfernt, aus Borken, und auch nach 36 Jahren Brasilien hat der 68jährige noch den urgemütlichen münsterländischen Tonfall drauf, sogar sein Portugiesisch ist davon gefärbt.

Eigentlich hat er vor 3 Jahren in Rom beim Heiligen Vater seine Pensionierung (die haben dafür natürlich einen tollen lateinischen Begriff) erbeten, auch erhalten, aber das nützt dem Amtsmüden nicht viel.
Da kein Nachfolger in Sicht ist („Rom hat es nicht eilig damit, die wissen, dass ich nicht von der Fahne gehe ...“) muss er in Óbidos die Stellung halten wie einstmals die portugiesischen Soldaten das Fort der Stadt.
„Ich bin nie der Menschenfischer gewesen, wie Rom ihn sich wünscht, obwohl ich einen Grossteil meiner Zeit auf Booten und auf Flüssen verbracht habe  -  in einem Gebiet, dafür bräuchte man in Deutschland mindestens ein Dutzend Bischöfe  -  ich habe auf die Menschen gewartet, und wenn ich dachte, sie brauchen Hilfe, bin ich auch auf sie zugegangen, nicht als Bischof, sondern als Bruder.“

Er sagt nicht „Bruder in Christo“, überhaupt ist seine Sprache erfreulich frei von religiösen Floskeln.
„Wer in meine Messe kommen wollte, war willkommen, gedrängt habe ich keinen. Mein Leitbild war immer Jesus als tätiger Mitmensch, als Bruder, so habe ich ihn auch den Menschen vermittelt.“
Ganz früh hat Bischof Lammers die Ausbildung der Laien an die erste Stelle gesetzt, „ ... auch mit bürgerschaftlichen und politischen Inhalten“, wie er betont. „Ob das dem Papst gefallen hätte, war mir  .... wurscht. Sagt man das noch so in Deutschland?“ Er bezieht sich vor allem auf Papst Paul VI, dessen Marienfrömmigkeit und anderes mehr ihm nicht behagten.
Und die Madonnen in seiner Kirche? „Das wollen die meisten Menschen hier so, sie nehmen mir das aus der Hand, ich kann da nur ergänzen und manchmal gegensteuern.“
Ich erzähle von unserer Arbeit in der Paraguay Initiative, komme dann auf seinen Amtsbruder Bischof Fernando Lugo aus Paraguay zu sprechen, der, als Bischof zurück getreten, sich als Präsidentschaftskandidat beworben hat. Vor allem betone ich die Gegnerschaft der Katholischen Kirche gegen Lugo, die unselige Rolle des heuchlerischen Nuntius, der Lugo „Politikmachen“ vorwirft und selber höchst politisch agiert  -   im Sinne der Mächtigen natürlich.
Als habe er darauf gewartet, legt Dom Martinho los:
„Diese Kirche, auch mit dem neuen Papst, hat immer eher die Mächtigen unterstützt als diejenigen, die Veränderung wollten, auch politisch. Also den Kapitalismus verteidigt und alles was ihm dient. Wenn der Lugo nicht auf dieser Linie ist, muss er sich über die Opposition aus der eigenen Kirche nicht wundern!“
Das Verwundern ist an mir, solch klaren, geradezu revolutionären, Worte hätte ich bei dem bieder erscheinenden Westfalen, der hier am Amazonas als Bischof wirkt, nicht erwartet.
Zurück nach Deutschland? Kommt für ihn nicht in Frage, hier in Óbidos will er begraben werden.    

Nicht so ich, für den erst einmal noch knapp 1000 (eintausend) Flusskilometer zu bewältigen sind  -  von Óbidos nach Belèm.
60 Stunden, für 70 Euro, macht pro Kilometer 0,07 Euro.

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